Kritik an Hongkong ist erwünscht. Mit der Selbstkritik wird jedoch sparsam umgegangen.
von Michael Straumann, 18.09.2019

Seit einigen Wochen stehen die Demonstrationen in Hongkong im Fokus der westlichen Leitmedien. Die chinesische Administration wird stark dafür kritisiert, dass sie ungerecht und brutal mit den Protestierenden umgeht. Gleichzeitig werden die Demonstranten für ihren Einsatz für die Demokratie von ihnen über den Klee gelobt.
Dass es zu Polizeigewalt von Seiten des chinesischen Staates kommt, wird hier nicht abgestritten und ist klar zu verurteilen. Auch dass es viele Demonstranten gibt, die es mit ihren Wünschen und Forderungen ehrlich meinen, wird nicht in Abrede gestellt.
Kritik der Polizeigewalt
Von den Massenmedien des Westens wird vorwiegend ein Bild vermittelt, dass die Polizisten die Täter- und die Demonstranten die Opferrolle einnehmen. Dabei wird darüber lamentiert, dass unter anderem Gummigeschosse eingesetzt werden, bei denen sich Demonstranten schwere Verletzungen wie zum Beispiel der Verlust eines Auges holen. [1]
Dieser Vorwurf gehört genauso an die politische Kaste der westlichen Wertegemeinschaft gerichtet. Das was dem chinesischen Staat und der Verwaltungszone Hongkong vorgeworfen wird, gehört genauso beim französischen Staat kritisiert. Dessen Polizei geht mindestens genauso brutal mit den Demonstranten der Gelbwestenbewegung um.
Der freiwillige Rettungsassistent Andy Eggert, der regelmässig bei den Gilets jaunes-Proteste Menschen verarztet, sprach in einem Interview mit NuoViso davon, dass die Polizeiunterdrückung so brutal ist, dass bei den Protestierenden "Kriegsverletzungen" verursacht werden und dementsprechend von einem "Bürgerkrieg" in Frankreich gesprochen werden kann. [2]
Das französische Onlinemagazin Mediapart hat die Bilanz der Opfer von November 2018 bis Juni 2019 aufgelistet. Es gibt inzwischen 860 dokumentierte Übergriffe von Polizisten auf Demonstranten. Davon sind 315 Verletzungen am Kopf, 24 Menschen mit Verlust eines Auges, fünf Personen mit abgerissenen Händen und zwei Todesfälle.
Trotzdem sagte der französische Innenminister Christophe Castaner, dass er keinen Polizisten kennt, der die Gilet jaunes angegriffen hat. Emmanuel Macron sprach
davon, dass es falsch ist, wenn man von Unterdrückung spricht. [3]
Mediale Darstellung der Demonstranten
Das SRF kritisiert die einseitige Darstellung der Demonstranten von Seiten der chinesischen Staatsmedien:
"Die höflichen Demonstranten, die geduldig anstehen und vorbildlich Rettungsgassen bilden, um Ambulanzen durchzulassen, kommen in Chinas staatlich kontrollierten Medien nicht vor. Stattdessen dominieren Bilder von vermummten Randalierern, die Steine werfen und Scheiben einschlagen." [4]
Dieser Vorwurf wäre auch beim französischen Staat hinsichtlich der Gelbwestenbewegung angebracht. Im westlichen Mainstream wird der französische Präsident Macron überwiegend positiv dargestellt. In der Süddeutschen Zeitung wird er zum Beispiel als "Emmanuel der Sanfte" bezeichnet, der den Dialog mit den Gelbwesten sucht. [5]
Doch die Zahlen, die oben im Text aufgelistet sind, sprechen eine andere Sprache. Trotz massiver Polizeiunterdrückung werden die Gelbwesten überwiegend mit Randalierern und Chaoten gleichgesetzt und eher mit der Täter- als mit der Opferrolle in Verbindung gebracht. [6]
Demokratische Defizite
Der stern kritisiert China dafür, dass in Hongkong versucht wird, die Demokratie zu unterbinden. [7] Jedoch muss man nicht unbedingt bis nach Südostasien reisen, um demokratische Defizite festzustellen.
So stellt beispielsweise eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung fest, dass weniger als die Hälfte der Deutschen mit ihrer Demokratie zufrieden sind. Während bei der Oberschicht mehr oder weniger Zustimmung herrscht, sind vor allem die Mittel- und Unterschicht mit der momentanen Umsetzung der Demokratie unzufrieden. [8] Es herrscht also eine mangelnde Repräsentation eines sehr grossen Teiles der deutschen Bevölkerung.
Wir können auch über den grossen atlantischen Teich schwimmen, denn es wurde dort durch eine Studie von der Universität Princeton aus dem Jahr 2014 nachgewiesen, dass die Vereinigten Staaten eine Oligarchie und keine Demokratie sind. Wenn die Interessen der Mehrheit der amerikanischen Zivilgesellschaft mit jene der amerikanischen Wirtschaftseliten beziehungsweise organisierten Interessen auseinandergehen, dann kann man davon ausgehen, dass die Interessen der Mehrheit nicht durchgesetzt werden. Dies ist auch der Fall bei sehr deutlichen Mehrheiten, erklärt die Studie. [9]
Zudem sind die Bürger Hongkongs nicht die einzigen, die nach mehr Demokratie fordern. Eine der zentralen Forderungen von Seiten der Gelbwestenbewegung in Frankreich ist die Einführung von direkter Demokratie, die an das schweizerische Vorbild angelehnt ist. [10]
Behauptung einer Graswurzelbewegung
In den westlichen Mainstream-Medien herrscht grundsätzlich der Tenor, dass die Protestierenden in Hongkong eine Graswurzelbewegung darstellen. Dass sie jedoch von der USA unterstützt werden, wird oftmals nur nebensächlich und ohne richtiger Einordnung erwähnt.
In einem Interview mit Fox News aus dem Jahr 2014 gab Dr. Michael Pillsbury - amerikanischer Direktor des Center on Chinese Strategy und Verwaltungsberater unter der Reagan-Administration - zu, dass die Vereinigten Staaten Einfluss auf die Demonstrationen ausüben. Das dort sich befindende US-amerikanische Konsulat ist sehr gross und hat die Absicht, die vom Kongress verabschiedeten "Hongkong-Policy-Acts" durchzusetzen, um die "Demokratie" dort zu konsolidieren. Ausserdem fliessen von Seiten der US-amerikanischen Administration - so Pillsbury - Millionen von Dollar in die Non-Profit-Organisation National Endowment for Democracy, um angeblich die "Demokratie" in Hongkong zu fördern. [11]
Dass die Demonstrationen genutzt werden, um imperiale Interessen der Vereinigten Staaten durchzusetzen, wird jedoch in der FAZ als Verschwörungstheorie abgestempelt. Stattdessen wird das Narrativ der "Förderung pro-demokratischer Kräfte" ohne kritisches Nachfragen übernommen. [12]
Es wird nicht darauf hingewiesen, dass die Vorfälle in Hongkong eventuell etwas mit der Langzeitstrategie der US-amerikanischen Aussenpolitik zu tun haben könnte, nämlich die Sicherstellung der eigenen Position als einziger Weltmacht. Diese Agenda wurde von Zbigniew Brzeziński, Politikwissenschaftler und Politikberater mehrerer US-Präsidenten, in seinem Werk Die einzige Weltmacht [13] niedergeschrieben. Die USA stiegen "mit dem Scheitern und dem Zusammenbruch der Sowjetunion (...) zur einzigen und im Grunde ersten wirklichen Weltmacht auf". Brzeziński erklärte auch, was für eine Strategie die Vereinigten Staaten verfolgen sollten, um die Rolle des global führenden Imperiums für sich zu behalten:
"Zunächst besteht die Aufgabe darin sicherzustellen, daß kein Staat oder keine Gruppe von Staaten die Fähigkeit erlangt, die Vereinigten Staaten aus Eurasien zu vertreiben oder auch nur deren Schiedsrichterrolle entscheidend zu beeinträchtigen." [14]
Gleichzeitig werden bei den Gelbwesten willkürliche Behauptungen aufgestellt, dass sie von feindlichen Kräften aus dem Ausland gesteuert würden. t-online stellt dazu im Artikel "Russland soll Krawalle in Frankreich aktiv befeuern" suggestiv die Frage: "Schürt Russland mit Desinformationen die Proteste, um Macron zu schaden?" [15] Zu dieser unterschwelligen Behauptung werden jedoch keine gesicherten Belege herangezogen.
Fazit
Spätestens seit dem Vorfall in Hongkong erkennt man klare Unterschiede in der westlichen Berichterstattung über jene Staaten, die der westlichen Wertegemeinschaft angehören und jene Staaten, die aus der Sicht des Westens missliebige Regierungen haben. Es ist zu beobachten, dass in den eigenen Reihen die Defizite nicht so kritisch gesehen werden wie bei den missliebigen Staaten. Dementsprechend kann man zur Schlussfolgerung kommen, dass hierbei von Seiten der westlichen Massenmedien ein Messen von zweierlei Mass stattfindet.
Vertiefte Informationen zur Gelbwestenbewegung
Wer genaueres über die Gelbwesten-Demonstrationen erfahren will, dem seien die Interviews von NuoViso mit dem vorhin oben erwähnten Demo-Sanitäter Andy Eggert mit den Titeln "Wir sprechen von Kriegsverletzungen" [16] und "Gelbwesten: Blaupause für Europa?" [17] empfohlen.
Quellen:
[1] Wurzel, Steffen: Proteste in Hongkong: Einsätze der Polizei werden brutaler, tagesschau.de, Online: https://www.tagesschau.de/ausland/hongkong-811.html, Stand: 17.9.2019.
[2] «Wir sprechen von Kriegsverletzungen» - Andy Eggert im NuoViso Talk, Online: https://www.youtube.com/watch?v=-VHlHW7Cxzg&feature=youtu.be&t=572, Stand: 17.9.2019.
[3] Allô Place Beauvau?, Online: https://alloplacebeauvau.mediapart.fr/, Stand: 24.8.2019.
[4] Aldrovandi, Martin: Stimmung in China - Kein Verständnis für Forderung nach mehr Demokratie in Hong-kong, Schweizer Radio und Fernsehen (SRF), Online: https://www.srf.ch/news/international/stimmung-in-china-kein-verstaendnis-fuer-forderung-nach-mehr-demokratie-in-hongkong, Stand: 23.8.2019.
[5] Pantel, Nadia: Emmanuel der Sanfte, süddeutsche.de, Online: https://www.sueddeutsche.de/politik/frankreich-emmanuel-der-sanfte-1.4571550, Stand: 23.8.2019.
[6] Macron verurteilt gewalttätige «Gelbwesten», tagesschau.de, Online: https://www.tagesschau.de/ausland/paris-723.html, Stand: 23.8.2019.
[7] Wüstenberg, Daniel: Experte über Hongkong-Proteste: «Den Menschen reicht es endgültig», stern.de, Online: https://www.stern.de/politik/ausland/experte-ueber-hongkong-proteste---den-menschen-reicht-es-endgueltig--8857002.html, Stand: 17.9.2019.
[8] Vertrauen in Demokratie. Wie zufrieden sind die Menschen in Deutschland mit Regierung, Staat und Politik?, Online: http://library.fes.de/pdf-files/fes/15621-20190822.pdf, Stand: 23.8.2019.
[9] Gilens, Martin / Page, Benjamin I.: Testing Theories of American Politics: Elites, Interest Groups, and Average Citizens, Online: https://doi.org/10.1017/S1537592714001595, Stand: 23.8.2019.
[10] Van Berchem, Mathieu: «Gelbwesten» träumen von direkter Demokratie nach Schweizer Vorbild, swissinfo.ch, Online: https://www.swissinfo.ch/ger/politik/frankreich_-gelbwesten--traeumen-von-direkter-demokratie-nach-schweizer-vorbild/44628826, Stand: 23.8.2019.
[11] China blames US for Hong Kong protests, Online: https://www.youtube.com/watch?v=cp2a4v3hBVg&feature=youtu.be, Stand: 23.8.2019.
[12] Böge, Friederike: Hongkong in Aufruhr. Legende von den fremdgesteuerten Protesten, FAZ, Online: https://www.faz.net/1.6329988, Stand: 23.08.2019.
[13] Brzeziński, Zbigniew: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt am Main 1999, 4. Auflage. (PDF: http://www.dragaonordestino.net/Drachenwut_Blog_DragaoNordestino/Freies-Konsensforum/Freies-Konsensforum_arquivos/Die-einzige-Weltmacht.pdf).
[14] Ebenda, S. 283.
[15] Russland soll «Gelbwesten»-Krawalle in Frankreich aktiv befeuern, t-online, Online: https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/krisen/id_84916012/paris-russland-soll-gelbwesten-krawalle-in-frankreich-aktiv-befeuern.html, Stand: 30.08.2019.
[16] «Wir sprechen von Kriegsverletzungen» - Andy Eggert im NuoViso Talk, Online: https://youtu.be/-VHlHW7Cxzg, Stand: 23.8.2019, (Stand: 29.8.2019).
[17] Gelbwesten. Blaupause für Europa? - Andy Eggert im NuoViso Talk, Online: https://www.youtube.com/watch?v=6ioss-ocufg, Stand: 23.08.2019.
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